Ich sitze in meinem Beet und zupfe das Unkraut aus dem Boden. Die Sonne wärmt meinen Rücken und meine Gedanken schweifen; schweifen ab in geführte Unterhaltungen, Gesten, Gespräche der letzten Tage. Ich sitze im Gedanken noch am Abend vor zwei Tagen an einem Tisch in einer geselligen Runde auf dem Zeltplatz. Neben mir setzt sich ein Mann. Wir sind bekannt miteinander, aber weit weg von kennen. Er hat Bier bei sich und eine gute Flasche Rum. Er schnuppert an der Rum-Flasche und seufzt genießerisch. Er lässt die Flasche rechts von sich von verschiedenen Menschen riechen. Auch zu mir dreht er sich und hält mir den Flaschenhals unter die Nase: „riech doch mal!“ fordert er. Ich schüttel den Kopf und sage, nein danke. „na komm, riech doch mal dran! Der riecht so gut!“ Ich sehe ihn an und sage nochmal etwas strenger: nein, danke. Mein Vater sitzt mir gegenüber und lacht. Wahrscheinlich weil er nicht weiß, wie er damit umgehen soll. Denn er kennt mich. Der Mann neben mir nicht. Er weiß, dass ich Nadine heiße; er weiß, dass ich einen Hund habe, dass ich verheiratet bin, Kinder hab. Was er nicht weiß: ich bin seit über vier Jahren trockene Alkoholikerin.

Mir geht noch ein Gespräch einen Tag später mit meiner Mutter durch den Kopf. Sie sagt, ich bin so still, lache nicht mehr. Es sieht aus, als hätte ich immer schlechte Laune – das könne doch nicht nur mit dem Alkohol zusammenhängen. „Außerdem –„sagt sie, „hast Du überhaupt noch Freunde?“ Kurz bin ich still, schaue auf das Wasser. Die Sonne blendet mich und meine Mutter wartet auf eine Antwort. „Nein.“ Sage ich. „Ich habe keine Freunde mehr.“ Sie schaut mich an: „und dit is nu jut?!“ fragt sie. Ich denke darüber nach. Mein Leben hat sich verändert. Und nicht alles war toll; eigentlich fingen die Schwierigkeiten erst nach meinem Entschluss vor über vier Jahren an. Ich hatte viele Freunde, es gab Unmengen von Feiern, Spieleabende mit vielen Flaschen Wein, Firmenpartys; mein Telefon stand nie still. „Ja“, sag ich. „Das ist gut so, wie es ist.“ Und ich meine genau das. Ob ich meine Freunde vermisse? Ja! Vermisse ich die Abende? Manchmal! Was vermisse ich nicht? Morgens Wattestäbchen im Kopf; Handy durchsuchen, was ich wieder angestellt habe; dicke und verquollene Augen; Umfragen bei den Menschen, ob ich was angestellt habe, Konto checken, was ich alles wieder ausgegeben habe und; schlechter Geruch nach Restalkohol: heute gebe niemandem mehr Gesprächsstoff mehr und ich kann immer Auto fahren.
Es war ein recht langer Weg bin ich mir dann endlich Hilfe geholt habe. Eine lange Zeit der Verleumdungen, der Selbstlügen, des Wegsehens. Gab es ein einschneidendes Erlebnis? Ja. Es gab mehrere. Aber einen bestimmten. Im Januar 2021 fiel mir auf, dass ich mich verändere. Es war ein Abend von vielen. Zu Hause, eine Flasche Rotwein im Kopf, Frust im Herzen. Ich zerstörte meine goldene Lieblingskette – zerriss sie in vielen kleinen Goldschnipseln. Das war der Grund; der Grund mein Leben zu ändern und einen Weg einzuschlagen, der nicht einfach wird. Denn ich bekam Angst vor mir selbst. Zu wem würde ich wohl werden, wenn das so weiter geht? Denn eine Entscheidung ist eine Entscheidung. Ich entschied mich dafür, das Stigmata „Alkoholiker“ aufgesetzt zu bekommen; ich entschied mich dafür, nicht mehr auf Partys zu gehen; ich entschied mich dafür offen mit dem Thema umzugehen – ich entschied mich für mich und mein Leben.
Die Offenheit der Abstinenz kam aber erst nach und nach. Lange Zeit „musste ich immer Auto fahren oder war vielleicht in „anderen Umständen“ (zwinker zwinker blinzel blinzel)“. Die Münze hat immer zwei Seiten. Die eine Seite ist die, dass ich viele Menschen „verloren“ habe, meine Gegenwart sogar als unangenehm empfunden wurde. Selbst tranken sie in meiner Gegenwart keinen Alkohol, schauten aber auffällig oft auf die Uhr. Dabei wurde ich nicht gefragt, ob mich das stören würde. Aber wer wird schon gern selbst gespiegelt. Die andere Seite wurde zu der, in der mir Menschen zuhören und nachfragten. Fragen stellen, wie ich das geschafft habe und nach Rat fragen, wie der Weg zu gehen geht – der Weg in die Abstinenz. Diese Seite machte mich zu Lotsen. Diese Seite stärkt mich und erinnert mich daran, dass es eine Zeit gab, die ich nicht mehr möchte. Aber was hat mich so stark gemacht?
Die Hilfe der Caritas ist definitiv ein guter Halt und eine sehr gute Perspektive. Aber die größte Kraft schöpfte ich aus mir selbst. Ich bin mein eigener Freund geworden, mein bester Freund. Achtsamkeit und Dankbarkeit. Jeden Tag. Ich übe mich regelmäßig. Ich habe mich immer gefragt, welcher Mensch ich denn gern wäre. Ich habe mich gefragt, was mich denn glücklich machen würde. Denn ich habe hier nur eine kleine Zeit auf diesem Planeten.
Ich arbeite heute noch mit meinem fast 50 Jahren an dem Bild, welches ich gern von mir zeichne. Natürlich ist nicht alles leicht und natürlich gibt es manchmal keine guten Tage. Aber ich liebe dieses Leben. Und es lohnt.
Nadine Basler, Lotsin im Lotsennetzwerk Brandenburg
